Eines Tages wird's geschehen...

"Liebes Tagebuch...", ich war nie ein Blogger, habe den Hype dahinter nie verstanden - aber ich bin einfach grundsätzlich nicht der Mensch der seine inneren Gedanken nach außen kehren muss.

Nun ist aber geschehen, wovon wir immer dachten es würde "eines Tages" geschehen, und mit eines Tages konnte man auch "nie" meinen. Und dieses Erlebnis möchte ich festhalten. Primär für mich, aber wenn's jemandem gefällt dann darf er es lesen :D

 

Noch ein Wort zum Namen meines Blogs: Ascendor ist mein Nickname. Er ist vor Jahren aus drei Gründen entstanden, die ich hier nicht vollständig ausführen möchte - aber der naheliegendste ist die (falsche) englische Übersetzung des Worts "Aufsteiger" - und damit meine Verbundenheit mit dem FC. Da das immer noch passt, habe ich den Blog gleich auch so benannt. Ich bin faul und unkreativ.

 

Eines Tages wird's geschehen.

Es ist das Ende der Bundesliga-Spielzeit 2016/2017. Vor den entscheidenden Spielen sind alle in Euphorie - bei mir herrscht das Gegenteil. Ich warne vor Enttäuschungen, vor Pfiffen, vor Schlimmerem.

Wahrscheinlich vor allem vor meiner eigenen Enttäuschung, ich habe Angst vor dem Erfolg.
Als es dann tatsächlich passiert, bin ich in Extase. Denke ich damals jedenfalls. Gegenüber dem was dann in London passieren sollte, war ich wohl eher gefühllos...

 

Auslosung

Die Spiele werden ausgelost. Seit Jahren ist einer meiner Lieblings-Fangesänge "Eines Tages, eines Tages, eines Taaaages wird's geschehen, und dann fahren wir nach Mailand, um den FC Köln zu sehen." Auch "in Kopenhagen schellt das Telefon" ist einer meiner Favorites. Tatsächlich ist es mir fast egal, wo es hingeht - ich will nur dass es ein einigermaßen bekannter Name ist, und nicht etwa ein Bate oder sowas.

Es wird London. Ich bin stunned. London ist perfekt. Es ist nah, ich beherrsche die Sprache und ich liebe die Stadt. Ich war schon 5-6 mal da. Und: Es ist ein Name.

 

Ticketverlosung

Voller Hoffnung, oder doch meinem Naturell entsprechend mit wenig Hoffnung, melde ich mich also für London an. Nicht für Heimspiele ("ich hab genug Heimspiele in meinem Leben erlebt"), nicht für Belgrad. Ich setze alles auf eine Karte. Ich will das erste Spiel sehen. Das erste nach 25 Jahren.
Meine Sorge bestätigt sich. Ich kriege keine Karte. Ich bin tagelang am Boden zerstört - obwohl ich schon wenig Hoffnung gehabt hatte. Meine Freunde haben auch keine Karten. Es ist ein hoffnungsloses Desaster.
Nach einigen Tagen bin ich in einem recht gefühllosen Zustand der Akzeptanz. An den Donnerstag vor DEM Donnerstag kann ich mich extrem gut erinnern: Es war ein besonderer Tag, da wir auf der Arbeit mit einem Videospielturnier den Abschied eines Kollegen betrauert haben. Ich war daher länger auf der Arbeit. Ich wurde mit dem Kollegen unerwarteterweise nur zweiter im Turnier. Und als ich mich fertig mache das Büro zu verlassen, kommt diese Mail rein.
Ich erhalte aus Rückläufern ein Ticket für Arsenal. Ich stehe im Lift und kann mich nicht bewegen. Die Tür geht auf und ein fußballinteressierter Kollege kommt mir entgegen. Fragt mich wie das Turnier gelaufen ist. "Ich... ich hab Tickets..." - er versteht kein Wort. Ich stammele weiter und erkläre ihm die Situation. Er versteht - hält mich aber wahrscheinlich mittlerweile für einen vollständigen Lunatic. Egal. Es ist passiert. Ich werde da sein. Beim ersten Spiel seit 25 Jahren. Ich realisiere... nichts.

 

Vorbereitung

Nun werden in Eile Flüge, Hotelzimmer (ja, ich bin alt!) Routen und sonstiges gecheckt. Nebenbei hoffe ich immer noch, dass @Koalabaerchen, mein jahrzehntelanger FC-Begleiter auch irgendwie noch Zugang erlangt. Es soll der große Wehrmutstropfen bleiben...
Flüge sind zu dem Zeitpunkt sehr teuer. Es ist mir egal. Hotelzimmer ist mir auch egal, ich sortiere auf Booking nach Preis und nehme das allerbilligste. Nachher liest sich meine Freundin, vom Fußball so weit entfernt wie ein Fisch vom Fahrradfahren, aber wohl an meiner Gesundheit interessiert, die Bewertungen durch. Von Bettwanzen und sonstigen Ekeleien abgeschreckt bittet sie mich doch etwas mehr als 50 EUR auszugeben, sucht mir eins für 70EUR und mit besseren Bewertungen raus. Ich schlage zu.

 

Der Tag

Flug

Mein Wecker steht auf 2:45. Es ist alles scharf auf Kante geplant: Um 6:45 geht mein Flieger. Ich wohne nicht gerade in Reichweite des Flughafens, daher ist die Anreise etwas schwierig: 35km Auto, dann die ERSTE S-Bahn vom P&R aus, und dann werde ich schon deutlich nach dem empfohlenen 2 Stunden-Puffer am Flughafen ankommen...
Es soll anders kommen. Zum Schlafen komme ich nicht. Eine Mischung aus Aufregung, Kopfschmerzen/Erkältung und der einfachen Tatsache dass ich es viel zu früh versuche hindert mich daran. Ich komme daher noch früher los als geplant. Komme so früh in Hamburg an, dass ich mich für eine andere Haltestelle entscheide. Die ist zwar einige Kilometer vom P&R entfernt, aber zu Fuß und mit Nachtbus (!) zu erreichen. Dann würde ich auch "rechtzeitig" am Flughafen ankommen. Meine Ängste den Flug zu verpassen, befeuert dadurch dass in HAM gerade umgebaut wird, würden damit besänftigt. Der Weg durch das menschenleere Hamburg, vorbei an Altona 93 ist magisch. Am Nachtschalter der Tankstelle ein Gespräch mit dem südländischen Verkäufer. Er wünscht mir viel Glück und viel Spaß.

 

Sicherheitscheck am Flughafen. Ich erblicke den ersten FC fan. Man nickt sich zu. Beim Check vergesse ich vor Aufregung mein Handy in der Hosentasche. Der Nacktscanner - für den mir keine Alternative angeboten wurde! - sieht natürlich etwas an meinem Körper, ich handle mir also eine Leibesvisitation ein. (Warum ich nicht einfach nach Abgeben des Handys ein zweites Mal durch den Scanner konnte erschließt sich mir nicht. Vielleicht ist er gesundheitlich doch nicht so unbedenklich wie immer behauptet wird?)
Danach immer noch genug Zeit. Ich gehe direkt zum Gate, die Sorge zu spät zu kommen ist nicht zu killen. Irgendwie glaube ich das alles halt immer noch nicht...

Am Gate sitze ich weitgehend alleine, so früh ist es. Doch mit der Zeit kommen mehr und mehr Leute, und mehr und mehr FC-Fans dazu. Zwei davon sind @Bucksen und @quarkbaellchen, die ich hier erstmals außerhalb von Twitter kennenlerne.

 

Ankommen

Ich habe drei Dinge auf der ToDo-Liste:

  • Hotel einchecken
  • Ticket abholen
  • Nahrung aufnehmen.

Ich finde es ultragruselig ohne FC-Ticket nach London geflogen zu sein, und würde gerne so schnell wie möglich Sicherheit haben. Das Hotel liegt auf dem Weg dahin, also statte ich ihm dennoch zuerst einen Besuch ab. Es unterscheidet sich etwas von den Beschreibungen bei Booking: Heruntergekommen, Baustelle... Es ist mir egal.
Einchecken noch nicht möglich, erst um 14 Uhr. Es ist gerade ~9:30 oder sowas. Ich gehe zum Stadion - oder besser gesagt zum Arsenal Football Club Box Office. Da soll es die Tickets geben, seit 08:30. Ich stehe vor verschlossenen Türen - oder besser gesagt Fenstern. Da steht etwas von "FC Köln Supporters Collection", und ich denke an Merchandising, auch weil nebenan ein Merchandisingshop von Arsenal ist. Ich laufe ein wenig herum, treffe schon einige FC-Fans. Keiner weiß etwas von der Ticketausgabe. Auffällig eher: Fast alle mit denen ich rede haben kein Ticket. Sie sind einfach so da, auf gut Glück. Bewunderswert, das hätte ich nicht gekonnt. Die Angst vor Enttäuschung hätte mich gekillt.
Ich gehe in diesen Shop, der hat schon offen, frage nach den Tickets. Sie schicken mich in den Hauptshop auf der anderen Seite des Stadions. Ich gehe rüber, es zieht wie Hechtsuppe. Im anderen Shop wissen sie von nichts, telefonieren ein wenig rum, sind sehr freundlich. Sie schicken mich zu einem dritten Shop. Auf dem steht "Ticket Collection", doch der Laden hat zu. Eine dezente Panik ergreift mich. Wenn das alles umsonst gewesen ist... Ich versuche mein Glück bei Twitter. @Koalabaerchen löst auf - die Öffnungszeiten sind, Zitat: "geringfügig angepasst" worden. Geringfügig bedeutet rund 3 1/2 Stunden. Es öffnet erst um 12. Mein Zittern soll also noch etwas anhalten.

 

Ich beschließe in die City zu fahren und etwas zu essen. Seit etwa 3 Uhr hatte ich nichts mehr zu mir genommen. Nichts festes, nichts flüssiges. Nicht die kulinarische Touristikleistung, aber "Pizza Hut" bietet mir all-you-can-eat und all-you-can-drink für etwa 10 EUR. Genau das habe ich gebraucht. Mein Kopfschmerz meldet sich stärker wieder. Ich bin wahrscheinlich weltweit der erste Kunde der sich ein Wasser aus dem Pizza-Hut-Automat zapft und da eine Aspirin drin auflöst.
Nach ein wenig Souvenir-Shopping für die Freundin geht es erneut zum Hotel. (In der City hatte ich überall schon kleine und größere Ansammlungen von FC-Fans getroffen. Genießen konnte ich das noch nicht, da mir die Situation mit Hotel und vor allem FC-Ticket zu unsicher war.)

Am Hotel ist das Einchecken nun möglich. Aufgrund der Baustelle ist das Hotelzimmer in einem anderen Gebäude(!). Alles extrem verwinkelt, ich verlaufe mich sofort im Gebäude. Als ich irgendwie im Hauswirtschaftsraum lande, hilft mir ein freundlicher Mitarbeiter aufs Zimmer. Das Zimmer ist 2*3 Meter groß und hat Schimmel (oder zumindest Wasserflecken) an den Wänden/Ecken. Es ist mir egal. Letzte Sorge das Zimmer betreffend: Buchungsbestätigung sagt, dass ich um 10 Uhr morgens erst auschecken kann. Ich muss morgen aber um 5 los. Die Rezeption sagt mir dass ich 24/7 los kann. Sehr gut.

 

Zurück zum Stadion. Die FC Köln Supporters Collection ist keine Merchandising-"Kollektion". Ich komme mir sehr dumm vor - aber vor allem bin ich erleichtert. Ich habe mein Ticket.

 

Nun entspanne ich mich endlich, nach ca 10 Stunden Anspannung. Bzw. nein, meine Anspannung weicht einer anderen, einer positiveren. Es geht nicht mehr darum was schief gehen könnte, sondern was geiles auf mich zukommen WIRD. Ich beschließe noch einmal ein Stündchen Schlaf zu bekommen. Es ist hoffnungslos. Ich bin aufgekratzt und schaue doch nur aufs Handy. Es soll also losgehen...

 

Vor dem Spiel

Da mein Hotel in der Nähe des Stadions ist und es schon nachmittag ist, möchte ich nicht zurück in die Innenstadt. Ich steuere Highbury Island an, den Platz/Park, an dem sich um 15:30 "die Südkurve" treffen möchte (http://suedkurve.koeln/treffpunkt-der-fc-fans-in-london/) mit dem Gedanken in der Nähe in einen Pub zu gehen. Ich komme nicht so weit. Schon bald höre ich laute Fangesänge, die mich leiten. Auf einer Kreuzung hat sich eine spontane Versammlung gebildet. Der Verkehr ist zusammengebrochen, kein Durchkommen mehr. Ich kaufe mir ein Bier und bekomme das erste Mal an diesem Tag den Eindruck dass die Stadt von dem was da auf sie zukommt völlig überrascht ist - und dementsprechend unvorbereitet: Der Kiosk ist (natürlich) überfüllt von FC-Fans. Es gibt eine lange Schlange, und heraus kommen Menschen mit Bierflaschen oder -dosen. Als ich mich Kühlschrank und Kasse nähere, bekommt der Ladenbesitzer einen Anruf. Er gibt danach dem Verkäufer die Anweisung, keine Flaschen mehr zu verkaufen. Solche Regelungen werden also wohl erst während des Tages ausgegeben oder verbreitet. Natürlich hat der Laden auch keine Becher, so dass nur noch die Dosen verkauft werden können. Manche Fans kriegen dann doch noch Flaschen - aber nur in Tüten - andere nicht. (In einem Laden 500m weiter kaufe ich zwei Stunden später noch 4 Flaschen Bier - aus Glas. Ohne Tüte.)

 

Begeisterte Schüler in Uniform
Begeisterte Schüler in Uniform

Auf der Kreuzung geht der Spaß weiter. Anwesende Engländer sind teilweise fasziniert, teilweise genervt. Mein Bild des Tages sind drei englische Schuljungs, die auf einer Barrikade stehen um drüber zu luken. Sie schlagen im Takt der Fangesänge auf die Barrikaden. Es zeigt sich nicht zum letzten Mal an diesem Tag, dass die Londoner schon sehr lange keine Fussballbegeisterung mehr erlebt haben. Es ist für die Jungs etwas neues.
Irgendwann kommt die Polizei an, und ich befürchte die erste Eskalation. Die Bobbies fahren an den Rand und beratschlagen sich. Was ich am Ende beobachte ist aber lediglich, dass sie ein wenig unter die Menge mischen. Es gibt keinen Versuch das ganze aufzulösen oder den Verkehr durchzuschleusen.

Fanversammlung auf Highbury Island
Fanversammlung auf Highbury Island

Weiter zum Highbury Island. Es ist UN-FASS-BAR. Es sieht aus wie bei einem Festival. Tausende Fans auf dem Rasen, strahlender Sonnenschein, Bier. Ausgelassene Stimmung, kein Fünkchen negativ/bedrohlich. Ich lasse es auf mich wirken. Ich sehe einen Polizisten wie er sich lächelnd mit Fans unterhält. Am Ende machen geben sie sich "Fist-Five". Ich habe unsere deutschen Macho-Polizisten noch nie so ungezwungen mit Fans (oder Menschen allgemein) umgehen sehen. Ich mache mich auf die Suche nach neuem Bier. Auf dem Weg sehe ich einen Straßenkehrer der ein paar leere Dosen aufsammelt. Es ist in meinen Augen ein völlig hoffnungsloses Unterfangen. Sofort rutscht mir ein "You've got a hell of a job today, man" heraus. Ich erwarte keine (freundliche) Reaktion, doch der nette Herr fängt direkt ein Gespräch mit mir an. Quintessenz: "I love it. So many people having so much fun!" Er wünscht mir viel Spaß und Glück. Sein Plan ist den Platz aufzuräumen wenn wir alle Richtung Stadion weiterziehen.

 

Als ich mein Bier habe - in Flaschen - setze ich mich auf den Rasen. Ein Mann, vier Bier, da sehen zwei dürstende Fans ihre Chance. "Da müssen wir hin!" Ich gebe ihnen ein Bier. Wir quatschen. Alle sind völlig fassungslos von der Energie die dieser Tag hat, diese Menschenmenge. Die beiden haben Dauerkarten von befreundeten Arsenal-Fans erhalten, die sie nach dem Spiel einfach in einem vorgefertigten Umschlag in den Briefkasten werfen. Es klingt nach einem bestehenden bekannten System. Wengers späteres "ich weiß nicht wie die FC-Fans das mit den Tickets gemacht haben" kann er sich in den Arsch stecken.

 

Der Fanmarsch geht los. Es ist unbeschreiblich. Eine Truppe von vielen Tausend (bestätigt durch einen weiteren netten Bobby) - ich kann Anfang und Ende der Truppe nicht sehen - zieht durch London. Laut singend. Viele viele Fenster zeigen Menschen die amüsiert herunterschauen, winken, mit ihren Handys filmen. Es wirkt, als hätte die Stadt lange auf diese Begeisterung gewartet.

 

Ich würde diesem Teil des Tages gerne mehr Text widmen, aber ich kann es nicht in Worte fassen. Auch während des Marsches selbst sage ich sicher 100 mal "unglaublich", "unfassbar". Es ist einfach laut, geil, friedlich, viel, voll,...

Stillstand vor dem Stadion
Stillstand vor dem Stadion

 Ich sage den beiden Jungs meine Erwartung für das Spiel:

 

  1. "Es ist mir scheissegal wie es ausgeht. Ich kann auch damit leben 5:0 zu verlieren."
  2. "Lass uns IRGENDWIE das 0:1 reinstolpern. Dann wird es ein geiles Spiel."

 

Am Stadion. Der Zug kommt abrupt zum Stehen. Wir sind auf der Brücke rüber zum Stadion. Die Brücke ist am Ende von drei oder vier berittenen Polizisten abgeriegelt. Es gibt keine Information. Meine Vermutung ist, dass durch das gleichzeitige Eintreffen von so vielen Tausend Fans die Einlasskontrollen nun einfach etwas länger dauern. Kein Problem. Die Menge singt weiter. Das Bier läuft, bis es leer ist. Es geht immer noch nicht weiter. 30 Minuten, 60 Minuten. Die Leute werden aggressiver, und ich habe Verständnis dafür. Es gibt einfach KEINE Information, der Bobby vor uns ist recht von oben herab (nicht nur durch seine Position auf einem Pferderücken), die Leute müssen aufs Klo - es gibt keins, es ist eng und es regnet mittlerweile recht stark.

 

Irgendwann werden wir mit und mit durch die "Pferdeschleuse" gelassen. Ich dachte das war es jetzt, doch die nächste Ansammlung ist dann nur wenige Meter weiter an den Einlasskontrollen. Da passiert noch mal das gleiche: Nichts. Keine Bewegung, kein Tor ist offen. Ich sehe ein mal für drei Minuten etwas Gerangel. Ein Bauzaun wird dabei rausgerissen und nach hinten befördert. Das war es, mehr Auseinandersetzung soll ich am ganzen Tag nicht erleben. Und während dieser Auseinandersetzung weichen 90% der Fans sofort zur Seite. Stellen sich an den Rand und warten bis sich die Lage erholt hat. Hier von einer "Schande von London" zu schreiben ist eine Schade für den Journalismus.

Mehr sage ich zu dem Thema nicht mehr, denn es nimmt zu viel Platz ein von einem unfassbaren Tag. Von einem friendlichen, von allen Seiten freundlichen Tag.
Wir warten hier aber sicher noch mal 30 Minuten, die Lage spannt sich hier schon an. Gerüchte von einer drohenden Spielabsage machen die Runde. Am Ende soll es nicht zu der Katastrophe kommen. Es geht ins Stadion, und zwar richtig schnell, komplett ohne Leibesvisitation.
Die lange Wartezeit hatte die Gesänge fast vollkommen verstummen lassen, und ich fürchte dass die Stimmung gekillt ist. Die FC-Fans belehren mich eines besseren. Nach kurzer Zeit bricht die Hölle los - im positiven Sinn - natürlich mit "Europapokal, wir spielen wieder im Europapokal". Die höchste Eskalationsstufe erreicht aber meiner Meinung nach der Unterrang-Oberrang-Wechselgesang "Come on, FC". Das Ding geht lang, und es entstehen Phase in denen gefühlt jeder den anderen überbieten will, in Sachen Lautstärke, in Sachen Inbrunst. Ich habe das richtig genossen, bisweilen fand ich das fast beängstigend. Es zeigt, welche Macht Gruppendynamik entwickeln kann. Ich habe das in der Dimension noch nie erlebt. Un-fass-bar.

 

Es ist wirklich echt - und ich bin dabei.
Es ist wirklich echt - und ich bin dabei.

Das Spiel

Mit dem Anpfiff geht der Alarm weiter. Die Spannung ist unerträglich. Auch wenn ich gesagt habe (und es auch so meine!) dass ich mit einer krachenden Niederlage einverstanden wäre, ändert das natürlich nichts dran dass ich hoffe und bete und bange. Jeder Angriff von Arsenal wird mit einem gellenden Pfeifkonzert begleitet. Mein Sinn für Fair Play spricht dagegen, mein Traum eines erfolgreichen Abschließens (und vielleicht auch der Ärger über die schlechte Einlassorganisation des AFC) lassen mich die Finger zum Mund führen und mit pfeifen. Jeder Angriff unseres FC wird mit einer Lautstärke begleitet die ihresgleichen sucht. Und dann fällt dieses Tor. Ich habe heute das Trikot an, was nach dem 4:2 von Köln über Schalke im DFB-Pokal 2006 in einer 10er-Auflage versteigert worden ist, und wenn mich jemand fragt, warum, ist folgendes ein Teil meiner Erklärung: "Es fällt ein Tor, und ich finde mich 5m weiter vorne im Block wieder". Nun ist da am Donnerstag ein Tor gefallen, und es bricht eine ähnliche Lawine los, aber im "Sitzplatzbereich". Ich werde hin- und hergewirbelt, tänzle auf den Rückenlehnen von verschiedenen Sitzen, drohe das Gleichgewicht zu verlieren - aber ich genieße es. Es fühlt sich nicht bedrohlich an, es fühlt sich genial an. Es fühlt sich an wie ein Drogenrausch - ohne dass ich je einen erlebt habe. Dieser Wunsch, dass wir einfach nur das erste Tor schießen, egal wie, ist in Erfüllung gegangen - UND WIE. Irgendwer hat das auf Twitter beschrieben, als der unendliche Moment in dem der Ball in der Luft steht - und dann einschlägt. Ein Traumtor, wo ich mir doch nur ein Reinstolpern gewünscht habe. Es wurde immer besser.

 

Die erste Halbzeit ist ein einziger großer Traum. Die zweite Halbzeit beendet diesen Traum recht schnell. Nein, falsch. Der Traum geht weiter, nur die Streusel auf dem Sahnehäubchen sind nicht mehr da. Nach dem 1:1 herrscht für gefühlte 30 Sekunden Schockstarre der FC-Fans. Die Arsenalfans nutzen die Chance. Ich höre sie an diesem Abend zum ersten Mal. (Ich weiß mittlerweile von Youtube, dass sie auch beispielsweise beim Einlauf gesungen haben, aber zu hören war das bei uns nicht.) Wir antworten - als ob die Kurve meine Gedanken lesen kann - mit "Sing when you're winning - you only sing when you're winning", und ab dann gehört das Stadion wieder uns. Heimspiel in London. Tor 2 und 3 von Arsenal beeindrucken dann nicht mehr so sehr, die Stimmung ist kaum getrübt.

 

Nach dem Spiel

Wenige Minuten vor dem Abpfiff werden wir alle noch mal lauter. Es wird wieder einmal "Wir spielen wieder im Europapokal" angestimmt. Fast forward 20 Minuten. Das Stadion ist "leer" - ALLE Arsenal-Fans sind längst weg, viele wurden bereits in Minute 85 mit "Auf Wiedersehen" verabschiedet. - Die Mannschaften sind weg. Und jetzt zeigt sich erst das Ausmaß der FC-Invasion. 1/4 bis 1/3 des Stadions ist noch gefüllt. Der Gesang von vor 20 Minuten läuft immer noch. Und zwar von allen. Zwischendurch höre ich dezent im Hintergrund Ansagen vom Stadionsprecher. Ich kann sie aufgrund unserer eigenen Lautstärke nicht verstehen - doch der Anstieg eben dieser Lautstärke nach der Durchsage lässt mich vermuten dass sie uns gerne aus dem Stadion raus hätten. (Später wird mir das via Twitter bestätigt)
Ich habe das Lied ("Wir spielen wieder im Europapokal") nie besonders gemocht, vor allem weil es inflationär in der Bundesliga gesungen wurde, wo man sich vielleicht auf andere Dinge konzentrieren könnte - aber hier und jetzt ist es genau das richtige: Thematisch treffend: Es geht nicht um Niederlage oder Sieg, es geht darum dass wir alle hier sind. Die Mannschaft, die Fans. Und die Melodie hat den Effekt dass sie sich immer wieder selbst verstärkt und nach einer ruhigen Phase wieder laut und druckvoll rüberkommt.

Nach jeder "Runde" denke ich 'das wars jetzt', und nach jeder Runde werde ich eines besseren belehrt. Es geht gefühlt unendlich weiter. Und doch kommt es zu einem Ende. Gemeinschaftlich und gleichzeitig, in Eintracht hört es auf, mit Applaus. Alle verlassen das Stadion.


Ich überlege kurz ob ich die Nacht durchmache und durchfeiere. Ich entscheide mich dagegen. Ich bin ganz froh dass ich nicht völlig betrunken bin und mir die Erinnerungen behalten kann.

 

Die Nacht

Ich komme am Hotel an. Vor dem Hotel steht ein Taxi, zwei osteuropäisch aussehende Frauen steigen aus und bleiben vor der Tür stehen. Wir kommen ins Gespräch. Was das für ein Schal sein, wo ich herkomme, wie man "how are you" auf Deutsch (oder litauisch) sage. Ich will nur noch schlafen. Als ich mich verabschiede, höre ich eine von beiden "do you want to fuck" sagen. "No". Ich lasse die Tür ins Schloss fallen.
Zum Schlafen komme ich trotzdem nicht. Das liegt nur zum Teil daran, dass die Wände dünn wie Pappe sind und sich nebenan jemand eine halbe Stunde lang die Seele aus dem Leib kotzt - und danach anfängt zu heulen. Es liegt vor allem daran, dass ich völlig aufgekratzt bin.

Früh morgens - noch vor dem Öffnen der U-Bahn geht es auf den Weg nach Heathrow. Es ist vorbei. Ein denkwürdiger Tag.


Ach ja... wer glaubt jetzt regelmäßig von mir lesen zu dürfen/müssen - dafür bin ich viel zu faul. Dieser Blog hier wird also mit einem einzigen Eintrag verrotten.

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